Ein Bild. Eine Geschichte. Ein Lied.
- 's Bertal
- 20. März
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 1 Tag
Ich möchte von meinem Großvater erzählen.
Als Veterinärmediziner war er im Zweiten Weltkrieg während des Einmarschs in die Sowjetunion bei der Kavallerie. Ihm oblag die Pflege der Pferde. Vermutlich genoss er als Offizier anfangs einige Privilegien gegenüber den einfachen Soldaten. Doch schon bald lösten sich diese Schritt für Schritt auf. Die Winter waren hart, die Rote Armee schnitt Rückzugsmöglichkeiten und Nachschub ab, Partisanen forderten ihren Blutzoll, Hunger und Kälte setzten den Soldaten zu. Schlachten gingen zunehmend verloren, er sah Kameraden fallen. Fallen, das heißt: Eine Kugel oder eine Granate reißt den Menschen auseinander, innere Organe quellen aus dem Leib, ein Bein oder Arm ist abgetrennt, ein Auge herausgerissen, der Kiefer zerschmettert. Der Tierarzt wird zum Menschenarzt.
Er wurde auch Zeuge der Gräuel der Wehrmacht, vor allem der SS, an der Zivilbevölkerung. Um ihn herum Blut, Tod, Hunger, Krankheit, Erschöpfung, Angst, Verzweiflung. Monate, Jahre, mit kurzen Unterbrechungen durch einen Fronturlaub. Dann die Niederlage. Er wurde zum Kriegsgefangenen. Sechs Jahre lang. Er lebte in einem Lager, wieder sah er Kameraden sterben. Totgeschlagen, erschossen, verhungert, an Krankheit gestorben. Als er endlich nach Deutschland zurückkam, sah er seinen Sohn – meinen Vater – zum ersten Mal. Dieser war bereits sechs Jahre alt. Mein Großvater, eine zerrissene, abgemagerte Gestalt, bärtig, in einem verdreckten Mantel, die Stiefel löchrig und kaum noch mit Sohle, stand vor ihm, und die Mutter sagte zu dem Kleinen: Das ist dein Vater.
Warum schreibe ich das?
Weil wir wissen müssen, was Krieg bedeutet. Weil ich den Eindruck gewinnen muss, dass jene Politiker und Journalisten, die heute auf eine Fortsetzung des Krieges in der Ukraine drängen und von deutscher Kriegstüchtigkeit sprechen, solche Erfahrungsberichte leider nicht mehr kennen. Vielleicht sind sie zu jung oder sie haben ihren Großeltern nicht zugehört. Aber das ist Krieg. Damals wie heute. In den deutschen Medien sehe ich keine Bilder aus dem Krieg an sich, aus dem Kampf, aus dem Leid, den jeder Krieg mit sich bringt. Die Bilder von den Gefallenen, den Verwundeten, dem tagtäglichen Grauen.
Kurz vor seinem Tod, ich war längst erwachsen, sagte mir mein Großvater, dass der Krieg in ihm nie aufgehört hat. Dass die Bilder ihn seither verfolgten. Durch meine ganze Kindheit hindurch – und auch durch die meines Vaters – ließ er uns dies nie merken. Manchmal aber brach es durch. Dann erzählte er, kurz nur, vom Leid der Pferde. Viel später erst begriff ich, dass er uns Kinder schonen wollte. Er sprach von den Pferden, meinte aber seine Kameraden und Freunde, er meinte die Menschen. Er konnte und wollte es nicht aussprechen. Das Wort Traumatisierung in der heutigen Bedeutung kannte er nicht. Es gab keine Traumatherapie, keine Psychotherapie. Er kam zurück und begann zu arbeiten. Er riss sich zusammen. Kämpfte seine inneren Kämpfe. Wir, seine Enkel, wussten nichts davon. Wir erlebten einen liebevollen, wenn auch strengen Großvater, der uns vorlebte, wie man sich angesichts der menschlichen Katastrophen würdig verhält.
Die Soldaten, so sie überlebt haben, sind im Anschluss auf sich gestellt, damals wie heute. Sie erfahren wenig Unterstützung, wenig Trost, vor allem aber wenig Verständnis. Sie lassen ihr Blut für die Interessen mächtigerer Leute, deren wahre Absichten verborgen bleiben.
Danach ist man klüger – warum nicht ausnahmsweise vorher?
Matthias Thiele