EIN KLEINES MÄDCHEN
GANZ GROSS!
Es ist November 1982 und ein Mädchen schreibt einen Brief.
Samantha Smith ist zehn Jahre alt und Grundschülerin in Maine.
Es ist nicht irgendein Brief, den sie schreibt und er geht auch nicht an irgendwen. Er ist an niemanden Geringeren adressiert als an den sowjetischen Staats- und Parteichef Yuri Andropow. Andropow wird in die Geschichte eingehen als einer der letzten alten Männer, die das Ende der Sowjetunion einläuten, bevor Gorbatschow kommt.
Nur wenige Tage zuvor hat er im November 1982 die Amtsgeschäfte seines jüngst verstorbenen Vorgängers, dem langjährigen Amtsinhaber Leonid Breschnew, übernommen.
Der Text von Samanthas Brief lautet:
Lieber Herr Andropow,
mein Name ist Samantha Smith, ich bin 10 Jahre alt.
Alles Gute für Ihren neuen Job. Ich mache mir Sorgen, dass Russland und die USA in einen Atomkrieg geraten. Würden Sie einen Atomkrieg befürworten? Wenn nein, dann sagen Sie mir doch, wie man das verhindern könnte. Sie müssen darauf nicht antworten, aber ich fände es toll, wenn Sie es trotzdem tun. Warum wollen Sie die Welt oder unser Land erobern? Gott will, dass wir unsere Welt teilen und nicht darum kämpfen. Lassen Sie uns einfach seiner Idee folgen und alle Menschen glücklich machen.
Samantha Smith
P.S. Bitte antworten Sie.
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Die gesamten 50er bis spätestens zur Kuba-Krise 1962 weht der kalte Wind der möglichen atomaren Apokalypse durch die Welt. Dass sich eine beängstigende Atmosphäre breit macht, entgeht auch Samantha nicht, die wohlbehütet, weit ab von europäischen Anti-Pershing Demos im ländlichen Maine direkt an der kanadischen Grenze aufwächst. Sie ist ein ungewöhnliches Kind, das sich schon früh für die Welt um sich herum interessiert. Mit fünf Jahren schreibt sie zum ersten Mal einen Brief an Queen Elizabeth, in dem sie ihre Bewunderung für die Monarchin zum Ausdruck bringt.
Nachdem Samantha ihren Brief an Yuri Andropow verschickt, passiert zunächst nichts.
Dann erfährt Familie Smith, dass Samanthas Brief in der sowjetischen Staatszeitung Prawda abgedruckt wird und dann passiert noch etwas: Andropow schreibt zurück.
Die Übersetzung des Originaldokuments lautet:
Liebe Samantha,
danke für deinen Brief, der so vielen Briefen ähnelt, die ich aus aller Welt erhalte — auch aus deinem Land.
Mir scheint, dass du ein sehr mutiges und ehrliches Mädchen bist. Du erinnerst mich an Becky, die Freundin von Tom Sawyer im berühmten Buch deines Landsmannes Mark Twain, was übrigens ein Buch ist, das alle Kinder in meinem Land sehr lieben.
Du fragst, ob ein Atomkrieg zwischen unseren Staaten ausbrechen könnte und du fragst, was man tun könne, um das zu verhindern.
Ich glaube, dass deine Frage die wichtigste Frage ist, die man heute stellen kann. Ich möchte dir in aller Ernsthaftigkeit antworten.
Ja, wir in der Sowjetunion versuchen alles, damit kein Krieg ausbricht. Das ist, was jeder Sowjetmensch möchte. Und es ist das, was unser Staatsgründer Wladimir Lenin uns beigebracht hat.
Die Sowjets wissen, was für ein Übel der Krieg ist. Vor 42 Jahren griff Nazi-Deutschland, das die Welt erobern wollte, unser Land an. Die Nazis zerstörten viele Dörfer und Städte und brachten Millionen sowjetischer Männer, Frauen und Kinder um.
Diesen Krieg, in dem wir in einer Allianz mit den Vereinigten Staaten kämpften, konnten wir siegreich beenden: Gemeinsam stritten wir für die Freiheit vor den Nazi-Invasoren. Ich hoffe, dass du diese Geschichte schon einmal in der Schule gehört hast. Heute wollen wir nichts lieber tun, als mit allen Menschen auf der Welt in Frieden zusammenzuleben, zu handeln und zusammenzuarbeiten — mit denen, die in unserer Nähe leben, ebenso wie mit weiter entfernten Völkern. Und eines ist sicher: Wir wollen ganz sicher Frieden mit dem großen amerikanischen Volk.
In Amerika und unserem Land gibt es Atomwaffen — schreckliche Waffen, die viele Millionen Menschen in kürzester Zeit töten können. Aber wir wollen, dass sie nie eingesetzt werden. Deshalb hat die Sowjetunion feierlich erklärt, dass sie nie Atomwaffen zuerst einsetzen würde. Darüber hinaus wollen wir, dass keine neuen Atomwaffen produziert und die heutigen Bestände abgebaut werden.
Ich glaube, das beantwortet deine zweite Frage „Warum wollen Sie Krieg gegen die ganze Welt oder die Vereinigten Staaten führen?“ Genau das wollen wir nämlich nicht. Niemand in unserem Land möchte das. Egal, ob er Arbeiter oder Bauer ist, Schriftsteller oder Arzt, Erwachsener, Kind oder Politiker. Wir wollen weder einen großen, noch einen kleinen Krieg.
Wir wollen Frieden — wir wollen uns mit Landwirtschaft beschäftigen, mit dem Schreiben von Büchern oder mit der Entdeckung des Weltalls. Wir wollen Frieden für uns, für unsere Kinder und alle Menschen auf der Welt. Wir wollen Frieden auch für dich, Samantha.
Ich möchte dich zu einer Reise in mein Land einladen, wenn dich deine Eltern kommen lassen. Die beste Reisezeit ist der Sommer. Du kannst Gleichaltrige treffen, unser Land kennenlernen und ein internationales Jugendcamp besuchen, Artek am Schwarzen Meer. Du kannst dich selbst überzeugen, dass die UdSSR für Frieden und Freundschaft steht.
Danke dir für deinen Brief. Ich wünsche dir nur das Beste für dein junges Leben.
Yuri Andropow
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Yuri Andropow lädt Samantha aus Maine in die Sowjetunion ein und spätestens jetzt wird sie zum Fall für die ganz große Weltpresse.
Kaum drei Monate nach Erhalt des Briefs des sowjetischen Parteichefs beginnt die Reise. Im Juli 1983 besucht Samantha die Sowjetunion. Zwei Wochen lang bereisen die Smiths Ziele wie das Jugendlager Artek am Schwarzen Meer (eine Art Kaderschmiede für die Parteijugend) und Leningrad, das heutige St. Petersburg. Samantha wird auf Schritt und Tritt begleitet, interviewt und kommt vor laufender Kamera zum Schluss, dass die Russen „wie wir sind“.
Zurück in den USA tourt Samantha und ihre Familie durch viele Talkshows.
Am 25. August 1985, zwei Jahre nach ihrer Reise in die Sowjetunion, kommt Samantha Smith bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Alle Menschen an Bord sterben. Samantha Smith ist gerade einmal 13 Jahre alt.
Samanthas früher Tod löst in den USA große Betroffenheit aus.
Aber nicht nur in den Vereinigten Staaten trauert man um das ungewöhnliche Mädchen.
1985 singt Sting in seinem Hit „Russians“: „I hope the Russians love their children too.“
Und lieben tun die Russen nicht nur ihre eigenen Kinder. Wie sehr ihnen die kleine Samantha ans Herz gewachsen ist, zeigt sich durch viele kleine und große Gesten, die tatsächlich anrühren: Kurz nach ihrem Tod gibt die Sowjetunion eine 5-Kopeken Briefmarke mit Samanthas Konterfei heraus.
Ein 1986 von einer sowjetischen Wissenschaftlerin entdeckter Asteroid erhält den Namen (3147) Samantha. Ein Berg, ein gefundener Diamant und eine neue Rosenart werden ebenfalls nach ihr benannt.
Samantha mag ein Propaganda-Coup gewesen sein. Aber wenn Russland einen ins Herz schließt, dann voll und ganz. In ihrem kurzen Leben, in einer Zeit intensiver Feindschaft hat Samantha das Unmögliche geschafft, das eine kleine Tafel in Augusta, Maine, heute ihr zu Ehren gut zusammenfasst. Mit Stolz blickt Maine auf seine Tochter zurück und gedenkt der Botschaft, die sie uns gelehrt hat: Dass ein Kind eine unglaublich wichtige Rolle für den Frieden spielen kann.
Vier Jahre nach Samanthas Tod fällt der Eiserne Vorhang.
Vielleicht bräuchte es heute wieder eine Samantha!
Alles Liebe, wir lesen uns!